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Die Attacke auf Paris, auf normale Menschen, Zivilisten, auf, das kann man sicher so sagen, die Freiheit, ist eine Tragödie. Nicht zu rechtfertigen. Ich schwanke, wie vermutlich jeder, der nicht direkt beteiligt ist, zwischen Trauer und Wut.

Aber, und das macht alles noch schlimmer, die Tat steht in einer langen Linie von Ereignissen, die eine Spirale bilden. Gewalt und Gegengewalt, immer leiden die Unschuldigen, immer profitieren die, deren Geschäft der Krieg ist.

Die Maschine läuft wie ein Uhrwerk: Auch vernünftige Leute fordern „ein entschlossenes Entgegentreten“, die rechten Spinner haben eh Aufwind, Springers Döpfner redet in wohlgesetzten Worten einem Kulturkampf das Wort, et cetera. Alles genau das richtige, um die Spirale weiter zu drehen. Wie bestellt, so geliefert.

Vermutlich ist es unmöglich, aber könnte man nicht die Wut und die Trauer kurz mal außen vorlassen? Und sich überlegen, was wirklich unsere Handlungsoptionen sind — und welche Effekte mehr Abschottung, mehr Gewalt und mehr Hass von unserer Seite haben werden? „Krieg“ ist das Wort der Stunde, aber wir sprechen hier ja nicht von klar erkennbaren Feinden, einem feindlichen Land, dass man, wie die Alliierten damals Deutschland, niederringen, besetzen und umerziehen kann. Wenn man das überhaupt wollte. Alle unsere aktuellen Feinde, all die Teufel, die man uns zeigt, waren zu dem einen oder anderen Zeitpunkt unsere Handlanger: Das Baath-Regime von Saddam sollte dem Iran schaden, die Al-Qaida und die Taliban sollten Russland schaden, die Vorläufer des IS sollten Assad schaden. Viele, viele Spiele auf dem Schachbrett der Geopolitik.

Ohne klare Agenda, ohne rechtsstaatliches Mandat, ohne historische Perspektive agieren die westlichen Staaten direkt oder durch ihre Stellvertreter im Nahen und Mittleren Osten.

Als hätten sie da was zu suchen.

Man boykottiert diesen, unterstützt jenen, kauft Öl von einem, liefert Waffen an den anderen, schaut bei Gräueltaten hin oder weg, je nach taktischer Lage. Und immer macht es alles schlimmer, selbst wenn es mal gut gemeint ist.

Aber es ist ja fast nie gut gemeint: Die eher linken Kurden, die im Wesentlichen ums Überleben und einen eigenen Staat kämpfen, hat man jahrelang allein gelassen, um Verbündete nicht zu vergrätzen; ein totalitäres Regime wie Saudi-Arabien, das westliche Werte geradezu offensiv nicht teilt, ist hingegen ein treuer Partner. Und agiert nicht selten als Stellvertreter des Westens in der Region. Es geht meistens um Taktik, um Profit, um Öl, Wasser, Einfluss. Um einen humanitären Mantel bemüht man sich immer erst, wenn zuhause die Opposition zu laut murrt.

Das alles rechtfertigt keine Attentate auf Menschen, schon gar nicht im Namen eines Gottes. Aber solange westliche Waffen in Krisengebiete geliefert werden, westliches Geld an Diktatoren fließt, westliches Militär am Schauplatz agiert — und gleichzeitig genügend Menschen und Institutionen im Westen an der Ausgrenzung von arabisch aussehenden Menschen mitarbeiten — solange ist das Narrativ der Islamisten intakt. Und so lange werden sie auch immer wieder junge Männer finden, die ihr Leben opfern, um es den „Kreuzfahrern“ heimzuzahlen, selbst wenn es Unschuldige trifft.

Wäre es nicht die beste Langzeitperspektive, dieses Narrativ zu zerstören? Keine Unterstützung mehr für fragwürdige Regime, kein Waffenhandel, keine Bombardements, keine weiteren Versuche des nation building, wohl aber humanitäre Hilfe wo nötig, wirtschaftliche Zusammenarbeit wo sinnvoll und freundschaftliche Beziehungen, wo das ohne die Aufgabe eigener Ideale möglich ist.

Die Welt braucht nichts weniger als die Fortführung der Spirale aus Attentaten und Militäraktionen, bei der beide Seiten die moralische Hoheit beanspruchen. Jeder Drohnenangriff mit zivilen Opfern, jeder Nazi-Marsch in Dresden, jedes Embargo, alles stärkt das Narrativ des IS, dass der Westen, dass die „Kreuzfahrer-Nationen“, den Islam vernichten oder wenigstens untergraben wollen. Genau wie jedes Selbstmordattentat, jedes Massaker, jede Videobotschaft des IS das spiegelbildliche Narrativ der rechten Hardliner im Westen stärkt, die propagieren, dass der Islam den Westen fluten, vernichten, schwächen will. Und dass Politiker auf beiden Seiten aus Eigennutz diese Dynamik für eigene Zwecke nutzen, um eigene Agenden (mehr Militärausgaben, Diffamierung der Opposition, mehr Überwachung) zu befördern, ist wenigstens unredlich.

Wir brauchen eine Koalition der Vernünftigen, weltweit.

Nous sommes unis.

[Photocredit: Aufmacherbild von Sandro Schroeder, via Flickr.]

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Kommentar

  1. Ein Artikel für Menschen, die einen punktuellen Gedanken fassen können. Denn mit Vergeltungswunsch oder Hasstiraden, bleiben wir Europäer auch fanatische Nachläufer.

    Danke an Gunnar Lott, für diese rationale Darstellung.

  2. Ich danke Ihnen für diese weise, auch meine Gefühle, klärende Sicht auf die Geschehnisse und Zusammenhänge. Das unseelige Trio aus Wut, Trauer und Angst zu greifen, und zu begreifen wofür schon vor langer Zeit die Stunde geschlagen hat, sollte die Runde machen und gemeinsamer, öffentlicher Konsens werden.
    Im Krieg gibt es, egal welche Ausmaße er hat und auf welcher Seite man steht, nur Besiegte.

  3. Das Problem ist halt, dass die Akteure nicht vernünftig, aber logisch handeln. Saudi-Arabien wird hofiert, weil so das Öl weiterhin in die USA fließt. Drohnen beseitigen eben angebliche Staatsfeinde bequem ohne Bodentruppen. Russland unterstützt Syrien, weil sich dort die Marinebasis Tartus befindet: Nationalstaaten konkurrieren um knappe Ressourcen und territoriale Hegemonie. Logisch ist das alles, insofern hier Subjekte ihre Interessen durchsetzen. Mehr Vernunft und freundschaftliche Beziehungen zu fordern ist da utopisch, so lange die Akteure eigennützig, also logisch handeln. Nötig wären effiziente supranationale Institutionen, die das nationalstaatliche Denken überwinden und die Partiklarinteressen durch das Interesse für globales Wohl ersetzen.

    • Vielleicht, vielleicht auch nicht. Das ist wie wenn ich ein Bedürfnis verspüre und auf die Straße kacke. Kurzfristig logisch, das Problem wurde ja gelöst. Moralisch jedoch ein bisschen fragwürdig, langfristig nicht hilfreich. Mache ich das ein paar Mal, schmeißt mir der Nachbar, der da reingetreten ist, vielleicht einen Hundehaufen in den Briefkasten. Tja.

      Will damit keinen Terror rechtfertigen, aber Gewalt ist eine Spirale. Wenn beide Seiten immer reagieren und dabei die andere verteufeln, kommt man nie da raus.

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