von

Vielleicht muss man den ganzen Quatsch der sozialen Medien beiseite lassen und einen Blick auf die Realität werfen.

Es hilft nichts, die AfD-Wähler pauschal für blöd zu halten. Bestimmt wählen eine Menge Dumpfbacken AfD, aber 15 bis 25 Prozent bei steigender Beteiligung erreicht man nur mit rechtschreibschwachen Rassisten nicht. Da haben eine ganze Menge normale Leute, wie man ihnen täglich beim Bäcker oder im Bus begegnet, nette Leute, die freundlich grüßen und die Tür aufhalten, mit voller Absicht eine Partei gewählt, von der sie wissen, dass sie Aufsehen erregen wird. Weil sie von CDU/SPD nicht recht vertreten fühlen, weil sie das Gefühl haben, dass niemand ihren Sorgen zuhört. Die Leute haben nämlich durchaus Sorgen, die über „Keiner unterstützt meinen Rassismus“ hinausgehen.

Denn:

Die Medien überzeichnen konkrete Gefahren und schaffen so Unsicherheit. Ich sprach neulich mit jemandem, der sich wegen der „Gefahr durch Ausländer“ nicht mehr abends auf den Marktplatz von Karlsruhe traut. Ich keine, hey, Karlsruhe ist nicht gerade die South Bronx. Sowas entsteht durch die paar berichteten Einzelfälle in der Tageszeitung und einen gewissen Bias samt allgemeinem Bedrohungsgefühl. Ich bin als kräftiger deutscher Mann nicht allzu gefährdet im öffentlichen Raum, aber auch mir kommen Gruppen von männlichen Migranten einen Tick bedrohlich vor, seit die ganze Debatte um Köln stattgefunden hat. Es ist schwer, sich gegen das ganze Dauerfeuer zu immunisieren.

Und:

Die Politik hat durch Skandale und Skandälchen und abnehmende Bodenhaftung zunehmend Glaubwürdigkeit verloren. Und schafft so Unsicherheit. Man muss sich ja nur mal den CDU-Spitzenkandidaten von BW anhören, dem es nach dieser Wahl wichtig war, festzustellen, dass Grün-Rot die Mehrheit verloren hat. Oder die Bundes-SPD, die von „Rückenwind aus Rheinland-Pfalz faselt“. Oder den Umgang mit Lobbygruppen. Vielleicht haben manche Leute nicht ganz zu Unrecht das Gefühl, dass die Politik dass, was sie für ihre Interessen halten, ohne harte Signale nicht vertritt. Auf der linken Seite weiß man ja auch, dass ohne Petition, Demo oder Kampagne nichts passiert.

Und:

Die Bindungskräfte des Christentums, im letzten halben Jahrhundert durchaus ein zivilisierender Einfluss, nehmen ab. Zumal im Osten, wo *hust* das Christentum nicht viel verbreiteter ist als unter syrischen Flüchtlingen. Die Dorfgemeinschaften erodieren unter Geburtenrückgang und Stadtflucht.

Ach, es fehlt allenthalben der moralische Kompass. Es fehlt eine Antwort auf den Veränderungsdruck der modernen Welt, der Lebensentwürfe gefährdet und zu nostalgischer Verklärung einer fiktiven Vergangenheit führt. Plötzlich soll man kein Fleisch mehr essen, soll das Internet verstehen, kein Auto mehr fahren — und Empathie mit wildfremden Menschen aus Syrien aufbringen, wo man sonst schon die Leute aus dem Nachbardorf für Spackos hielt, mit denen man besser keine Geschäfte macht. Man muss das nicht gutheißen, wie die Leute empfinden, aber es wäre Aufgabe der Politik, sich dem zu stellen.

Wie sich das lösen lässt, weiß ich auch nicht, aber vielleicht müsste man mal damit anfangen, drüber nachzudenken.

Bevor der deutsche Trump kommt.

P.S. Ein Gutes hat die Sache aber schon: Vielleicht können wir uns kollektiv von der Vorstellung verabschieden, das sei ein rein ostdeutsches Problem. Würde ja bei der Aufarbeitung helfen.

P.P.S.

Ein paar weiterführende Links, teils meiner Meinung, teils nicht.

7 Tage auf Dunkelfacebook — eine Recherche in die rechten Freundeskreise.

Mach’s noch einmal, gute alte Sozialdemokratie — ein Analyse der Krise der SPD.

Hirnfresser — über den Neoliberalismus als Wurzel vieler Übel.

Die These, der Osten sei nicht rechter, ist falsch — eine Analyse (vom letzten Jahr).

Was ist, wenn man der AfD dumme Fragen stellt — ein schneller Blick auf die Runden von gestern.

Wir gehen mit der AfD falsch um, konstatiert der Tagesspiegel.

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Kommentar

27 Kommentare

  1. Schöner Text. Immerhin nicht polarisierend, reflexhaft, emotional aufgeladen. Nicht Schwarz oder Weiß. Länger als 140 Zeichen. Trotzdem am Ende auch ein Ausdruck von Ratlosigkeit. Das ist der Grund, warum in meinem Umfeld keiner mehr über Politik diskutieren will. „Klar ist das alles doof, aber was kann ich dagegen schon tun?“

    • Naja, die Wahlsonntage verschleiern das immer ein bisschen, aber nur weil ich parteienverdrossen bin, heißt es ja nicht, dass ich unpolitisch bin.

      Gibt ja viele Arten, sich lokal und überregional einzubringen. Ist auch oft schöner, eine konkrete Agenda zu haben, anstatt diesen Feudalsystemen mit ihren Lokalfürsten zuzuarbeiten.

  2. Danke Herr Lott. Kannte ihren Block noch nicht aber bin vom Inhalt des Textes schwer angetan. Gerade die Aussagen zum Thema Unsicherheit der Menschen finde ich sehr treffend.

    Aber jetzt erstmal wieder schön Stay Forever hören ;)

  3. Das Problem ist meines Erachtens die Verunsicherung der Menschen angesicht der scheinbar (z.T. auch anscheinend) komplexer werdenden Umstände.
    Die wesentliche Ursache scheinen mir dabei die (Leit-)Medien zu sein, die häufig ein mindestens verzerrtes Bild der Zustände generieren und so Zusammenhänge eher ver- als erklären. Ebenso kritisch muss man die amtierenden Politiker beurteilen; es wird meist reagiert nicht vorausschauend agiert (und wenn doch kommt TTIP bei raus).
    Habe letztens den Schauspieler Josef-Liefers in einer Talkrunde über Syrien gesehen, der das Land 2013 bereiste um sich selbst ein Bild zu machen. Sein Kommentar, dass die derzeitige Behauptung der Politik/Medien die „Flüchtlingskrise“ sei so plötzlich und überraschend entstanden, ihn fassungslos mache, da das alles (lange) vorherzusehen war, ist der springende Punkt.
    Viele Probleme hätten mit vernünftiger Berichterstattung/Politik zumindest abgeschwächt werden können. Leider haben wir es meiner Meinung nach mit grassierender Inkompetenz (ob dies nun gewollt ist oder nicht sei dahingestellt) zu tun und das erzeugt die oben genannte Verunsicherung.

  4. Die Globalisierung hat früher vielleicht noch die ungebildeten Menschen betroffen. Mit der Weiterbildung der Menschen in Entwicklungsländern kommt die Globalisierungs-Angst auch bei den gebildeten Fachkräften an. Tätigkeiten wie Softwareentwicklung, Maschinenbau, Handel, ja sogar Personalmanagement werden in zunehmenden Maße auch von gebildeten aber schlechter bezahlten Fachkräften in sogenannten Entwicklungsländern übernommen.

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